MEDIZIN & MORAL

Die Gebeine des Schinderhannes befinden sich heute im Besitz des Instituts für Anatomie an der Heidelberger Universität. Heidelberg, wird manch einer fragen, was hat Heidelberg mit dem Schinderhannes zu tun?

Die Antwort lautet: Nichts, außer der Sache mit dem Skelett.       
Und die hat sich so zugetragen:

1792 veröffentlichte Luigi Galvani erstmals die Ergebnisse seiner Experimente aus Versuchen mit Froschschenkeln. In Mainz lehrte damals der Mediziner und Hofrat Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815). Er zeigte sich den Forschungen Galvanis gegenüber aufgeschlossen.

Interesse daran zeigte aber auch die Mainzer Medizinische Privatgesellschaft. Die Chance, durch die Hinrichtung von zwanzig Menschen an eben noch (fast) lebendes menschliches Untersuchungsmaterial zu kommen ließ sich keiner der beiden entgehen. Man bereitete umfangreiche Experimente vor.

Über die von der Medizinischen Privatgesellschaft Mainz durchgeführten Experimente berichtet der 1804 in Frankfurt ohne Verfasserangabe veröffentlichte Beitrag: >Galvanische und elektrische Versuche an Menschen und Thierkörpern<:

"Die Herren Pitschaft und Größer, Kandidaten der Medizin, übernahmen die Mühe, an dem Tage der Hinrichtung der zwanzig Verbrecher sich unter das Schafott zu begeben und bei zwei Köpfen (dem des sogenannten Schinderhannes und des schwarzen Jonas) folgenden Versuch zu machen: Einer der beiden Herren Kandidaten nahm den Kopf, sobald er aus dem Schafott gefallen war, in beide Hände, und nachdem sie ihn genau betrachteten und sahen, dass er nicht die mindeste Verzerrung im Gesicht noch an den Augen, die halb geschlossen waren, äußerte, rief ihm der andere bald in das eine, bald in das andere Ohr, während derjenige, der den Kopf hielt, auf den Erfolg genau acht hatte. Allein es wurden nicht die geringsten Veränderungen wahrgenommen."

Ungefähr 150 Schritte von dem Schafott entfernt hatte die Gesellschaft eine Holzhütte mit zwei Räumen aufbauen lassen, in dem Sie ihre 'galvanischen‘ und 'elektrischen‘ Versuche durchführte. ?“

In Auswertung ihrer „Experimente“ formulierte die Medizinische Gesellschaft sogenannte Gesetze. Das Erste lautet:

„Wenn man die Muskeln erst kurz getöteter Menschen mit den Konduktoren der Voltaschen Säule in Verbindung bringt, so ziehen sich jene Muskeln  auf dieselbe Weise zusammen, wie sie es während des Lebens zu tun pflegten.“

Auch Ackermann hatte  an seinem anatomischen Institut Versuche durchgeführt. Ernsthaften wissenschaftlichen Wert hatten die Feststellungen nicht. Ackermann kam aber in den Besitz des Skelettes des Schinderhannes (?), das er bei seinem Wechsel 1804 zunächst mit zur Universität nach Jena und dann nach Heidelberg nahm.

Eine zeitgenössische Quelle berichtet über die Hinrichtung wie folgt:

»Das Spektakel war aufs Trefflichste vorbereitet, galt es doch, ein zahlreiches Publikum - zwischen 15 000 und 30 000 Menschen - zufrieden zu stellen, das gar aus dem fernen Frankfurt nach Mainz angereist kam. Da war etwa, so berichtete ein anonym gebliebener Augenzeuge später, statt des üblichen Korbes, der bei 20 Hinrichtungen jedesmal umständlich hätte geleert werden müssen, "hinter der eigentlichen Maschine ein lederner Sack ohne Boden angebracht, durch welchen die Köpfe in den unteren verdeckten Raum fielen (...) Vorn war eine Klappe angebracht, durch welche der Rumpf ebenfalls in den unteren Raum geworfen wurde. Aus diesem quoll häufig das Blut bald von allen Seiten hervor". Auch darauf waren die Henkersknechte an der Guillotine vorbereitet, mit einem Becher nämlich, "in dem sie das herausspritzende Blut auffingen, das sie dann Umstehenden zu trinken gaben" - zum stolzen Preis von einem Gulden, sollte doch das Blut Hingerichteter die Fallsucht heilen und andere Wunder vollbringen.«

Was mit dem Skelett sonst noch geschah.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Präparat dem Frankfurter Anatomen Johann Christian Gustav Lucae (1814 bis 1885) entliehen, der es am Senckenbergischen Medizinischen Institut für seine Forschungen bezüglich der Schädelformen von Verbrechern vermaß. Im Zweiten Weltkrieges soll der Schädel des Räubers bei einem Bombenangriff verloren gegangen und später durch einen anderen ersetzt worden sein. Zeichnungen vom Original sind aber noch vorhanden.

Zweifel bezüglich der Echtheit gibt es aber auch im Hinblick auf das Skelett. Der Schinderhannes soll in Folge einer TBC-Infektion im Kindesalter eine Trichterbrust gehabt haben, bei dem dem Schinderhannes zugeschriebenen Skelett ist davon nichts zu sehen.

Streit um das Skelett.

1983 gab es übrigens einen zunächst nicht ganz ernsthaften, dann aber erbittert geführten Streit um das Skelett zwischen Mainz und Heidelberg.  Eine Bürgerinitiative forderte die Rückführung der Gebeine nach Mainz. Was als Spaß begann wurde grotesker Ernst. Der damalige Oberbürgermeister von Mainz, Jockel Fuchs, drohte gar mit der Absage der Fernsehfastnacht.

Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL berichtete am 05.12.1983 über diese Sternstunde deutscher Kommunalpolitik, die wir Ihnen nicht vorenthalten möchten:

                                           Diese Kostbarkeit
          Wissenschaftler und Politiker zanken sich um ein Gerippe.
Immer wenn der Heidelberger Anatomie-Professor Wolf-Georg Forssmann seine Vorlesungen über Knochenlehre etwas zu würzen sucht, präsentiert er ein Skelett mit "Besonderheiten": Im Brustbein klafft ein "rundliches Loch", das laut Forssmann "von einem Messerstich" stammen könnte. Und am vierten Halswirbel ist eine "glatte Durchschnittstelle" gut erkennbar, die "von einem Fallbeil" herrührt.

Nicht verwunderlich: Das lädierte Gebein, das von einer Metallstange aufrecht gehalten wird, gehörte zu Lebzeiten dem Räuberhauptmann Johannes Bückler aus dem Hunsrück, genannt "Schinderhannes", der am 21. November 1803 in Mainz mittels einer Guillotine zu Tode kam. Der Leichnam wurde - wie damals nach Hinrichtungen üblich - zu medizinischen Experimenten freigegeben und später von dem Mainzer Anatomie-Professor Jacob Fidelis Ackermann präpariert. Ackermann, der zuletzt in Heidelberg lehrte, hinterließ das Räuber-Gerippe 1815 dem Anatomischen Institut der Heidelberger Uni.

180 Jahre nach der Hinrichtung haben Mitglieder einer "Schinderhannes-Initiative" makabre Diskussionen um den Verbleib des Knochengerüsts in Gang gebracht: Die Bürgerinitiativler, vorwiegend Angehörige eines Kleinkunstverlages, forderten die Rückführung der "noch existierenden Überreste" und marschierten am Todestag des Räuberhauptmannes mit Fackeln durch Mainz: "Rettet die Gebeine."

Die Initiative, ursprünglich als Jux ausgeheckt, geriet den Urhebern jedoch außer Kontrolle. Der publizitätsbewußte Mainzer Oberbürgermeister Jockel Fuchs witterte mal wieder eine Chance zur Selbstdarstellung und solidarisierte sich spontan. In ARD und ZDF drohte Fuchs mit Absage der Mainzer Fernsehfastnacht, "wenn die Heidelberger stur bleiben". Derweil verpflichtete sich ein Bestattungsinstitut zur "fachmännischen und kostenlosen" Überführung des Skeletts, Bürger forderten die Stadt Mainz auf, die Knochen notfalls "für 100 000 Mark" zu kaufen und eine "Schinderhannes-Gedenkstätte" einzurichten.

Um die Echtheit des Räuberskeletts ist prompt ein Gelehrtenstreit entbrannt. Zwar sind sich die Heidelberger Anatomen ihrer alten Knochen "völlig sicher" (Professor Forssmann). Der Mainzer Medizinalhistoriker Franz Dumont behauptet jedoch, auf dem Schinderhannes-Gerippe sitze "ein falscher Kopf". Der richtige Schädel sei "um 1840" an einen Frankfurter Anatomen verliehen und nie zurückgegeben worden.

Ob Schinderhannes das Herz auf dem richtigen Fleck hatte, ist ebenfalls umstritten. Die Bürgerinitiativler übernahmen die Legende vom edlen Räuberhauptmann, der als "Robin Hood aus dem Hunsrück" reiche Kaufleute ausraubte und arme Bauern beschenkte, gegen "Unterdrückung und Ungerechtigkeit" (Flugblatt-Text) kämpfte.
Professor Helmut Mathy vom Mainzer Altertumsverein lehnt solche Glorifizierung als "Klischee" ab, Willi Wagner vom Geschichtsverein der Hunsrück-Gemeinde Simmern ordnet den Räuberhauptmann nach Studium der Prozeßakten klar "in die Kategorie der Verbrecher" ein.
Für den Mainzer Geschichtslehrer Fritz Brakhage jedoch, der über das "Räuber- und Gaunerwesen am Mittelrhein" seine Examensarbeit schrieb, war Schinderhannes weder "Sozialbandit" noch "gemeiner Krimineller". Vielmehr sei Johannes Bückler als Angehöriger einer "deklassierten Schicht" von nichtseßhaften Außenseitern (Bücklers Vater war Abdecker) schon aus "Überlebensgründen" auf Raubzüge und Diebstähle angewiesen gewesen.

Professor Forssmann hat derweil das Schinderhannes-Skelett, "diese Kostbarkeit", erst einmal versteckt - Jux hin, Jux her. Sollten die Heidelberger das Räubergerippe aber doch herausrücken, gehört es nach Ansicht des CDU-Landtagsabgeordneten Walter Mallmann "in den Hunsrück": Dort habe "der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen" gelegen, in Mainz sei Schinderhannes lediglich geköpft worden.
Mallmanns Motto: "Die Knochen nicht den Henkern."

Anmerkung des Verfassers: Tote soll man ruhen lassen. Das anatomische oder wissenschaftliche Interesse an der Aufbewahrung des Skelettes ist gleich null. Wenn das Skelett aber nur noch zur Befriedigung einer Sensationslust dient, sollten die sterblichen Überreste - von wem auch immer sie stammen mögen - endlich in Friede und Würde ruhen.